Wirtschaftsstrafrecht

Wirtschaftsstrafrecht im Fokus

Wirtschaftsstrafrecht gewinnt nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch im Alltagsbewusstsein stetig an Bedeutung. Denn das Wirtschaftsstrafrecht ist die staatliche Reaktion auf Wirtschaftskriminalität. Und über die wird längst nicht mehr nur in verstaubten Verhandlungssälen der Amts- und Landgerichte, sondern in den größten Zeitungen dieses Landes diskutiert. „Crime sells“ nun einmal und genug Stoff liefert die Wirtschaftskriminalität auch. So füllt etwa der Dieselskandal seit Ende 2015 regelmäßig die Schlagzeilen der Zeitungen. „Cum-Ex“ ist ein weiterer Fall, der ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten ist. Aber da der Begriff selbst nicht viel aussagt und das Konstrukt der Leerverkäufe um den Dividendenstichtag selbst zu kompliziert ist, spricht man lieber plakativ vom „größten Steuerraub der Geschichte“. Verkauft sich auch besser.

Von diesem unfreiwilligen Glanz der Wirtschaftskriminalität „profitiert“ nun auch das Wirtschaftsstrafrecht. Dieser Beitrag umreißt, welche Bedeutung Wirtschaftskriminalität als Teil der Gesamtkriminalität hat, was „Wirtschaftsstrafrecht“ eigentlich ist und welche aktuellen Entwicklungen es derzeit gibt.

Die praktische Bedeutung des Wirtschaftsstrafrechts

Die praktische Bedeutung des Wirtschaftsstrafrechts bemisst sich an der tatsächlichen Bedeutung der Wirtschaftskriminalität. Die Bedeutung der Wirtschaftskriminalität wird am besten durch das vom Bundeskriminalamt (BKA) erstellte „Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität“ abgebildet. Laut aktuellem „Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2017“ stiegen die Fälle von Wirtschaftskriminalität im Vergleich zum Vorjahr um 28,7% auf 74.070 Fälle. Diese Zahlen sind für sich betrachtet erheblich. Nimmt man nun aber den Anteil von Wirtschaftsstraftaten in der Gesamtkriminalität, relativiert sich das Gesamtbild. Wirtschaftsstraftaten machen nämlich gerade einmal 1,3% der Gesamtzahl an Straftaten aus. Warum Wirtschaftskriminalität dennoch von außerordentlicher Relevanz ist, zeigt ein anderer Wert, und zwar der Schaden: Der durch Wirtschaftsstraftaten entstandene Schaden liegt laut Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität bei 3,7 Milliarden Daraus folgt daher dass 1,3% der Taten mehr als die Hälfte des in der der deutschen polizeilichen Kriminalitätsstatistik durch Kriminalität insgesamt verursachten Schäden ausmachen.

Wirtschaftsstrafrecht in der Praxis

In der Praxis hat sich das Wirtschaftsstrafrecht inzwischen als eigener Rechtsbereich etabliert. Dies gilt sowohl hinsichtlich der juristischen Ausbildung, in der Studierende „Wirtschaftsstrafrecht“ regelmäßig als universitäres Schwerpunktfach wählen können, als auch im Hinblick auf die Kanzleilandschaft, in der hochspezialisierte Boutique Kanzleien ausschließlich zu wirtschaftsstrafrechtlichen Fragestellungen beraten. Neben diesen Spezialkanzleien, die nicht nur über die fachliche Expertise, sondern auch über die nötige forensische Erfahrung und Verbindungen zur Justiz verfügen, versuchen mittlerweile immer mehr sog. Full-Service-Kanzleien sich im Wirtschaftsstrafrecht im Markt ein Gesicht zu verschaffen.

In der Justiz wurden schließlich nicht nur eigene Wirtschaftsstrafkammern, sondern auch spezielle Schwerpunktstaatsanwaltschaften geschaffen, die sich speziell mit dem Wirtschaftsstrafrecht beschäftigen.

Der Begriff Wirtschaftsstrafrecht – vielschichtiger als seine Wikipedia-Definition

„Wirtschaftsstrafrecht“ wird gesetzlich nicht definiert. Tatsächlich gibt es – anders als es uns die Absolutheit der in der Wikipedia ausgewiesenen Definition glauben lassen will – unterschiedliche Definitionsansätze. (Die Darstellung orientiert sich an der M.E. sehr guten Übersicht in Wittig, Wirtschaftsstrafrecht):

So wird Wirtschaftsstrafrecht zum Teil kriminologisch vom Phänomen der Wirtschaftskriminalität oder „dem Wirtschaftskriminellen“, zum Teil strafprozessual anhand des Straftatenkatalogs des § 74c GVG sowie strafrechtsdogmatisch anhand der geschützten Rechtsgüter definiert.

Im Einzelnen:

Kriminologischer Begriff des Wirtschaftsstrafrechts

Die kriminologische Definition des Wirtschaftsstrafrechts knüpft teilweise am typischen Täter einer Wirtschaftsstraftat, an der Motivlage des Täters oder an den Folgen von Wirtschaftskriminalität.

Gerade im angelsächsischen Raum ist die täterbezogene Definition des Wirtschaftsstrafrechts populär. Anstatt vom Wirtschaftsstrafrecht spricht man dort regelmäßig vom „White Collar Crime“, also von „Weißer-Kragen-Straftaten“. Mit diesem Begriff soll der typische Wirtschaftskriminelle beschrieben werden, der sich entsprechend seinem sozialen Profil mit einem weißen Hemd kleidet. Ausgehend von der kriminologischen Forschung ist diese Täterbeschreibung nicht unzutreffend. Danach begehen insbesondere gut gebildete Männer von sozialem Ansehen in ihren 40igern Wirtschaftsstraftaten. Entsprechend definieren andere Wirtschaftskriminalität als „Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit“ (Göppinger, Kriminologie). Wieder andere Stimmen in der Kriminologie differenzieren anhand der Motivlage des Täters. Wird die Straftat im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit begangen, spricht man von „occupational crime“, wird die Tat zu Gunsten des Unternehmens begangen spricht man von „corporate crime“.

Wirtschaftsstrafrecht in der deutschen Kriminologie

Die deutsche wirtschaftskriminologischen Literatur definiert Wirtschaftskriminalität als die Gesamtheit der Straftaten, die bei wirtschaftlicher Betätigung unter Missbrauch des im Wirtschaftsleben nötigen Vertrauens begangen werden und Belange der Allgemeinheit berühren (Schwind, Kriminologie).

Strafprozessualer Begriff des Wirtschaftsstrafrechts

Der Gesetzgeber hat mit § 74c GVG die Möglichkeit eigene Wirtschaftsstrafkammern etabliert, um der zunehmenden Bedeutung des Wirtschaftsstrafrechts gerecht zu werden. Der Gedanke dahinter war, dass es eine ganze Reihe von Delikten gibt, deren Beurteilung Spezialkenntnisse auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens erfordern. Bei den in § 74c GVG ausdrücklich genannten Delikte wird vermutet, dass dieses Spezialwissen erforderlich ist. Daneben werden Delikte wie Betrug oder Untreue den Wirtschaftsstrafkammern zugewiesen, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“. § 74c GVG gibt daher zwar keine gesetzliche Definition, wohl aber eine gewisse Richtlinie, was „Wirtschaftsstrafrecht“ eigentlich ist.

Strafrechtsdogmatischer Begriff des Wirtschaftsstrafrechts

Schließlich definiert die strafrechtsdogmatische Strömung Wirtschaftsstraftaten anhand ihres spezifischen Unrechtsgehalts. Die jeweilige Norm soll dem Schutz überindividueller Rechtsgüter dienen. Wirtschaftsstraftatbestände schützen also nicht Individualrechtsgüter wie Leib, Leben oder Freiheit, sondern Kollektivrechtsgüter. Als Kollektivrechtsgüter werden insoweit die Wirtschaftsordnung in ihrer Gesamtheit, die soziale Marktwirtschaft oder der Schutz der Wirtschaftsordnung genannt. Diese Kollektivrechtsgüter lassen sich weiter konkretisieren, indem man sie auf ein bestimmtes Wirtschaftsgebiet, wie zum Beispiel der Europäischen Union, oder einen bestimmten Wirtschaftssektor, wie zum Beispiel die Finanzwirtschaft, bezieht.

Gegenstimmen in der LIteratur kritisieren die Unbestimmtheit dieses Definitionsansatzes. Die strafrechtsdogmatische Strömung begegnet dieser Kritik, indem sie zudem auf die Art des Angriffs abstellt. Eine Wirtschaftsstraftat liegt danach nur vor, wenn das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung insgesamt oder ihre Institute verletzt und damit der Bestand und die Arbeitsweise der Wirtschaftsordnung gefährden werden (Otto ZStW 96 (1984), 339, 342).

Im Ergebnis bleibt die Diskussion über eine Definition des Wirtschaftsstrafrechts natürlich theoretischer Natur. In der Praxis spielen solche Überlegungen in den seltensten Fällen eine Rolle.

Aktuelle Entwicklung im Wirtschaftsstrafrecht

Wirtschaftsstrafrecht ist ein dynamisches Rechtsgebiet. Dies hat mehrere Gründe. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass das Wirtschaftsstrafrecht diverse Blankettstraftatbestände kennt. Blankettstraftatbestände verweisen ihrerseits auf Normen, die sich stetigen Änderungen ausgesetzt sehen. Das prominenteste Beispiel ist hier sicherlich § 370 AO. Darüber hinaus sieht sich das Wirtschaftsstrafrecht zunehmend europäischen und internationalen Einflüssen ausgesetzt. Wirtschaftskriminalität kennt nun einmal keine Grenzen und so kommt es nicht selten vor, dass deutsche Staatsanwaltschaften mit ausländischen Behörden zusammenarbeiten. Zu nennen sind hier zum Beispiel das US Department of Justice (DOJ), der SEC oder europäische Ermittlungsbehörden.

Innerhalb Europas zieht die Europäische Union mehr und mehr strafrechtliche Kompetenzen an sich, um eine gesamteuropäische Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sicherzustellen. Angestoßen von Skandalen wie dem Geldwäscheskandal um die Danske Bank und Steuerskandalen wie den Cum-Ex-Deals oder LuxLeaks hat die EU deutlich gemacht, nicht mehr nur auf ein Tätigwerden innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten zu warten. Vielmehr will die EU nunmehr selbst aktiv werden.

Fazit

Angesichts aktueller Bestrebungen in der EU ist es nur eine Frage der Zeit, wann die EU ein eigenes europäisches Wirtschaftsstrafrecht etabliert. In strafprozessualer Hinsicht hat es hier mit der E-Evidence-Verordnung schon die ersten Schritte gegeben.

Abgesehen von der Europäisierung und Internationalisierung des Wirtschaftsstrafrechts, wird dieses Jahr mit dem Verbandssanktionsrecht eine wesentliche Säule innerhalb des Wirtschaftsstrafrechts geschaffen. Es bleibt abzuwarten, ob es dem Gesetzgeber gelingt, ein kohärentes System zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zu schaffen. Spannend ist inbesondere die Frage, inwiefern sich Compliance-Bemühungen von Unternehmen im neuen Verbandssanktionsrecht auswirken.